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Dekantieren

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decantación (ES)

Bei diesem vor einem Weingenuss optional zu praktizierendem Vorgang scheiden sich die Geister auch von Fachleuten diametral. Im Prinzip gibt es drei unterschiedliche Richtungen: 1. Wein muss man dekantieren, weil er „atmen“, das heißt mit Sauerstoff in Berührung kommen muss, um die Aromen optimal zu entfalten. 2. Dekantieren hat nach wissenschaftlichen Erkenntnissen überhaupt keine Wirkung und ist deshalb ohne Bedeutung. 3. Dekantieren eines Weines ist sogar schädlich und schadet seiner Qualität. Was ist also objektiv richtig? Eindeutig ist nur, dass selbst anerkannte Fachleute divergierende Meinungen haben. Der berühmte französische Önologe Émile Peynaud (1912-2004), einer der bedeutendsten Weinverkoster und Wissenschaftler auf diesem Gebiet ist ein klarer Dekantiergegner und meinte dazu: Wenn es überhaupt nötig ist, zu dekantieren, dann sollte man es zum spätestmöglichen Zeitpunkt tun, nämlich unmittelbar bevor man den Wein genießt.

Dekantieren - Einschenken aus Flasche in Karaffe

Divergierende Meinung von Fachleuten

Peynaud meint sogar, dass der Einfluss des Sauerstoffs grundsätzlich negative Auswirkungen habe, ein diffuses Aroma des Weines bewirke und sich die Geschmacksstoffe verflüchtigen. Bei den meisten Weinen bringe ein Dekantieren überhaupt nichts. Nach zahllosen Versuchen mit verschiedensten Weinen fasst Peynaud wie folgt zusammen: Bei alten Weinen wird das Bukett mehr oder weniger schnell abgebaut und die Weine „sterben in der Karaffe“. Qualitativ hochwertige Weine mit langem Fasslager und sortenreine Weine verlieren Bouquet, Körper und Persönlichkeit, wenn sie mehrere Stunden vor dem Genuss dekantiert werden. Im Gegensatz dazu kann ein Dekantieren bei Weinen mit Geruchsfehlern oder Fremdgeschmack von Vorteil sein. 

Auch der britische Önologe Michael Broadbent (1927-2020) hat die Meinung vertreten, dass ein Dekantieren bzw. eine Luftzufuhr nur bei jungen Weinen (Rotweinen), bei älteren weniger und bei alten überhaupt nicht sinnvoll sei. Besonders alte qualitativ nicht herausragende Weine mit weniger Charakter sind seiner Meinung nach gefährdet, denn sie können durch Sauerstoffkontakt innerhalb kurzer Zeit (Stunden bis Minuten) zerfallen und zu Essig werden. Er sieht das nicht ganz so extrem wie Peynaud, schreibt aber dem Dekantieren relativ wenig Wirkung zu. Die Weine werden allenfalls etwas weicher (was auch ein Nachteil sein kann). Der Weinautor Hugh Johnson meint, dass sich ein Wein durch das Dekantieren auf jeden Fall verändert. Ob zum Vor- oder Nachteil hängt seiner Meinung nach vom Wein und vom persönlichen Geschmack ab.

In den USA erfolgte wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass Dekantieren keinen nachweisbaren Einfluss auf den Wein hat, denn eine Anreicherung mit Sauerstoff findet - wenn überhaupt - nur an der Oberfläche statt. Oft wird als „Beweis“ angeführt, dass ein unter längerem „Sauerstoffeinfluss“ gestandener Wein sich von einem sofort nach dem Öffnen genossenem unterscheidet. Zum Beispiel durch „fruchtigeren und milderen Geschmack“. Aber auch dies bringt noch keine Klarheit, denn es kann damit zusammenhängen, dass sich der Gaumen z. B. nach dem ersten Schluck eines tanninbetonten Weines sich inzwischen an die Adstringenz gewöhnt hat und der Wein nur scheinbar anders schmeckt. Auch inzwischen genossene Speisen oder eine andere Weintemperatur haben Einfluss und können andere Sinneseindrücke bewirken.

Belüften statt Dekantieren

Eine spezielle Dekantierform der „langsamen Belüftung“ (slow oxygenation method) vor allem bei alten Rotweinen, aber auch anderen propagiert der berühmte französische Weinsammler François Audouze. Die Flasche wird zuerst einmal zwei Tage vor dem geplanten Genuss verschlossen aufrecht stehen gelassen. Dann wird sie entkorkt und ohne zu dekantieren wieder stehen gelassen, wobei der Korken zwecks Schutz vor Staub oder Insekten nur auf die Öffnung gelegt wird. Audouze empfiehlt für sehr alte Weine (30 bis 40 Jahre und älter) vier bis fünf Stunden, für jüngere Weine fünf bis zehn Stunden und länger. Er ist auch gegen das Entfernen des Depots, weil er meint, dass dadurch der Geschmack verändert, ja sogar die Struktur des Weines zerstört wird. Er nimmt dabei in Kauf, „dass das zuerst eingeschenkt Glas Wein anders schmeckt als das letzte“.

Aber auch Anhänger seiner Methode meinen, dass ein Entfernen des Depots auf jeden Fall erfolgen sollte. Der Effekt der „Audouze-Methode“ ist, dass dem Wein ganz langsam Sauerstoff zugeführt wird (nachdem er ja vielleicht schon jahrzehntelang davon abgeschlossen war) und dieser sich deshalb viel harmonischer entfaltet. Der nicht so seltene „Dekantierschock“ kann dadurch angeblich vermieden werden, der bei älteren Weinen zu prominenter Säure oder harten Tanninen führen kann. Nach der Aussage von Audouze basieren seine langjährigen positiven Erfahrungen auf „über tausend geöffneten Flaschen mit Jahrgängen vor 1945“. Dabei waren absolute Spitzenraritäten zurück bis Anfang des 19. Jahrhunderts darunter.

Als Resümee kann man nur den Rat geben, das für sich selbst auszuprobieren. Bestenfalls genießt man denselben Wein einmal dekantiert und einmal nicht dekantiert - optimal wäre sogar parallel - um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dazu benötigt man aber natürlich zwei Flaschen, was jedoch ein „neues Problem“ ergibt. Denn Weine können sich sehr wohl unterschiedlich entwickeln und derselbe Wein in zwei verschiedenen Flaschen anders schmecken; das Phänomen nennt man Flaschenvarianz. Also ist dies wiederum kein eindeutiger „wissenschaftlicher Beweis“. Ein Kompromiss wäre es, eine halbe Flasche zu dekantieren und die andere Hälfte in der sofort wieder zu verschließenden Flasche zu belassen. Das wäre aber nicht zu 100% im Sinne der Sache, denn auch ein kurzer Sauerstoffkontakt könnte ja bereits Veränderungen hervorrufen.

Entfernen des Depots

Der objektivste (und auch unumstrittene) Grund für das Dekantieren ist es, den Wein von dem am Flaschenboden abgesetzten und besonders bei Rotweinen vorkommenden Depot (polymerisierte Gerbstoffe und Farbstoffe) sowie eventuell Weinstein zu trennen. Abgesehen vom negativen Erscheinungsbild würden diese sonst unweigerlich ins Glas gelangen und den Geschmack möglicherweise negativ beeinflussen.

Karaffieren

Der zweite und wie oben geschildert nicht unumstrittene Grund für das Dekantieren ist, den Wein mit Sauerstoff in Berührung zu bringen und sein Aroma zur Entfaltung zu bringen. Ein Großteil der Weinliebhaber hält die Methode für sehr wichtig und sinnvoll. Dieses Umfüllen in ein anderes Gefäß zum alleinigen Zweck des Lüftens nennt man auch Karaffieren (frz. carafer). Dadurch kann sich nach den Befürwortern ein Wein entscheidend positiv verändern. Die Zeremonie erfordert viel Fingerspitzengefühl, Geduld und Zeit. Die Flasche wird schon zwei bis drei Tage vor dem Genuss aufrecht gestellt, damit sich das Depot unten am Boden sammeln kann. Man kann die Flasche in ein Dekantierkörbchen oder eine Weinwiege legen, wo die Flasche mit dem Hals schräg aufwärts lagert. Wie lange der Wein vor dem Genuss dekantiert werden soll, richtet sich nach der Rebsorte und dem Weinalter und auch nach persönlichen Erfahrungen. In der Regel sind es zumindest ein bis drei Stunden.

Dekantieren - drei verschiedene Karaffen

Der Korken muss vorsichtig entfernt werden, ohne das Depot aufzuwühlen. Dann beginnt man langsam und ruhig an der Innenwand einer Karaffe einzugießen. Ein Dekantiertrichter kann ein gutes Hilfsmittel sein, damit der Wein direkt an der Wandung einfließen kann. Dadurch kommt der Wein erstmals mit Sauerstoff direkt in Berührung und beginnt sein Aromazu entfalten. Eine Dekantiermaschine ermöglicht ein gleichmäßiges und ruhiges Eingießen. Die Flasche wird mit der Öffnung schräg aufwärts in die Maschine eingespannt und durch eine Handkurbel der Flaschenhals langsam nach unten bewegt. Dies ist bei bestimmten Typen des Portweins oder ähnlichen Weinen sinnvoll, denn dieser entwickeln ein extrem feines Depot. Beim Eingießen muss sich eine Lichtquelle genau hinter der Flaschenschulter befinden, um das Auftauchen des Depots, das sich als schwarzer Strich präsentiert, zu erkennen. Wenn die ersten Spuren sichtbar werden, wird das Eingießen gestoppt.

Doppeltes Dekantieren

Eine Variante ist Double Decanting (doppeltes Dekantieren). Dabei wird der Wein zuerst in eine Karaffe oder in eine leere Flasche entleert. Dann wird die Flasche gereinigt, um eventuelle Depotrückstände zu entfernen und dann der Wein mittels Trichter zurück in die Flasche gefüllt. Soll diese transportiert werden, wird sie wieder verschlossen. Dadurch ergeben sich nach den Anhängern dieser Methode mehrere Vorteile. Durch den doppelten Sauerstoff-Kontakt wird der Wein noch besser „durchlüftet“. Auf diese Weise vordekantierte Flaschen können überall hin mitgenommen werden und sind sofort genussfähig. Außerdem können die Flaschen mit den Original-Etiketten nicht mit anderen Weinen (Flaschen) verwechselt werden, was bei mehreren Karaffen mit verschiedenen Weinen nur durch Kennzeichnen der Karaffen verhindert werden kann.

Nicht geleerte, undekantierte Flaschen können ohne zusätzlichen Aufwand wieder gelagert werden (Weinklimaschrank oder Kühlschrank). Ein weiterer Vorteil könnte sein, dass Flaschen mit den oft aufwändig gestalteten Etiketten am Tisch attraktiver wirken als Karaffen. Weiters können von jedem die Informationen auf dem Etikett leicht abgelesen werden. Es gibt auch einige Markensysteme bzw. technische Geräte (sogenannte Minidekanter), die auf die Flasche aufgesetzt werden. Beim Eingießen kommt daduech der Wein mit viel Luft bzw. Sauerstoff in Berührung. Das sind unter anderem Decantus, Venturi-Rohr und Versovino. Es gibt noch eine Vielzahl weiteren Zubehörs wie zum Beispiel eine Dekantierkugel, die in den Hals von Dekantiergefäßen gehängt werden kann und den Wein sanft abfließen lässt sowie Weingläser mit integrierter Kugel.

weiterführende Informationen

Siehe zum Themenkomplex auch unter den Stichwörtern Alterung, Flaschenreifung und Trinkreife (Entwicklung des Weines), sowie Weingenuss, Weingläser, Weinkeller, Weintemperatur und Wein zu Speisen (Genuss).

Dekantieren: von Didriks - Decanting auf flickr, CC BY 2.0, Link 
Dekantierente rechts: © Silber & Dekor

Stimmen unserer Mitglieder

Prof. Dr. Walter Kutscher

Früher benötigte man eine Fülle an Lexika und Fachliteratur, um im vinophilen Berufsleben up to date zu sein. Heute gehört das Weinlexikon von wein.plus zu meinen besten Helfern, und es darf zu Recht als die „Bibel des Weinwissens“ bezeichnet werden.

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